die österreichische kunst der jahrhundertwende und des beginnenden 20. jahrhunderts setzte sich besonders mit unverhüllter erotik bis zu sado-masochistischer grausamkeit, bis zu intensivem wühlen im lebendigen fleisch auseinander.
ich denke vor allem an freud, schnitzler, egon schiele, musil, gerstl, kokoschka, weininger, trakl, werfel, kafka und die zweite wiener schule, angeführt von arnold schönberg.
all das vorher gesagte traf in der musik von arnold schönberg zusammen.
von der tristan-chromatik ausgehend über die verklärte nacht löste er die tonalität auf. es bedurfte eines täters, eines gewalttäters, der durch sein ausdrucksbedürfnis die grenzen der musik sprengte, bis er in den tonartfreien raum jenseits von dur und moll gelangte. wie nietzsche hat er alle einengungen über sich und um sich gesprengt. er wurde zum mörder seines »vaters« sowie überkommener ordnungen und schuf daher eine neue wirklichkeit.
mit dem programmwerk seines II. streichquartetts öffnet er die türen zur freien tonalität, »ich fühle luft von anderem planeten«. eine schwerelosigkeit entsteht. trunken geraten wir in den schwerelosen raum des alls, ähnlich wie dies durch die ersten gegenstandslosen bilder von kandinsky der fall ist. keiner hat so radikal mit überkommenen traditionen gebrochen wie schönberg, keiner war so radikal wie er in dieser zeit. die erotik spielt bei fast allen werken schönbergs eine große rolle. bei dem melodram der erwartung, der vielleicht konsequentesten komposition schönbergs, steigert sich die erotik bis zur exzessiven grausamkeit nahezu bis zur perversion. eine frau irrt durch den wald und sucht ihren geliebten, bis sie ihn erschlagen findet. die ausdruckskraft des klanges dieser musik übersteigt alles bisher dagewesene, selbst das makabre der salome von richard strauss.
hier kann nur die tiefenpsychologie als vergleich herangezogen werden. durch die klanganalysen schönbergs wird tief ins fleisch des lebendigen gegriffen.
die fragment gebliebene oper moses und aron geht, abgesehen von der radikalität der musik, neue dramaturgische wege. schönberg hielt sein werk für unaufführbar. auf der bühne sollten sich schlachtungen und vergewaltigungen ereignen. trotz der strengen 12-tontechnik gelang es eine dem geschehen entsprechende orgiastische musik zu komponieren. moses und aron war für mich fast eine vorwegnahme meines o[rgien] m[ysterien] theaters. keiner hat sich bisher mit solcher radikalität mit der tatsache des schlachtens auseinandergesetzt.
wie überhaupt die exhibitionistische drastik und die der psychoanalyse ähnliche aufdeckende dramatik seiner in erotische abgründe lotenden musik mich immer wieder anspornte und mir mut machte zu extremsten konsequenzen.
imponiert hat mir immer die fast ekstatische progression der entstehung seiner werke. er ruht sich auf keiner seiner arbeiten aus. schon das je weilig nächste werk stellt den rezipienten vor neue probleme. diese progression ereignet sich von der verklärten nacht ausgehend über die sinfonische dichtung pelleas und melisande, die kammersinfonie, das klavierstück op. 11, das II. streichquartett, die georgelieder, die erwartung usw. bis zur findung der 12-tontechnik. das doch letzlich fertig gestellte jugendwerk der gurre-lieder wurde von seinen neueren arbeiten überholt. daher das janusgesichtige der riesenkomposition.
die sicher von dem maler gerstl angeregte malerei schönbergs wirft nochmals ein tiefes licht in seine gesamterscheinung. mit seiner malerei ist er eindeutig ein dilettant, wenn auch ein faszinierender. seine abgründe reichen bis in die dimension des psychotischen. ebenso leuchtet seine musik diese tiefen aus, aber in diesem fall bändigt die form seiner hohen kompositorischen könnerschaft das schaurige eines ausbruchs aus den regeln.
alles in allem gehört schönberg zu den großen umwertern des 20. jahrhunderts. nicht vergessen werden soll seine funktion als lehrer, als pädagoge. er hatte eine vielzahl von schülern zwei davon, webern und berg, waren ihm ebenbürtig. die zweite wiener schule wäre ohne diese beiden genialen komponisten nicht zu denken. er wurde von seinen schülern geliebt und verehrt. es ist bezeichnend, dass einer seiner letzten schüler in kalifornien john cage war.
(2001)

Die Visionen des Arnold Schönberg. Herausgegeben von Max Hollein und Blazenka Perica. Frankfurt am Main 2001, p. 59–60